Dienstag, 3. Mai 2022

Hurra - wieder cineastische Schmankerl im Das Kino !

 Vom 29. März - 11. April fand - coronabedingt mit einem Jahr Verspätung - das 14. Lateinamerikanische Festival im Das Kino statt.

Noch unsere Begeisterung vom 13. Lateinamerikanischen Filmfestival im Kopf, schauten mein Sohn und ich uns so viele Filme wie möglich an. Und wir luden meine Tochter ein, die aus München an dem Wochenende 08. - 10. April gerne und voller Neugier kam. Diese wurde mit 9 Filmen gestillt.

 Jeder Film war einzigartig, manche hatten eine klare Aussage, manche ließen viel Raum für Interpretation.


Ich möchte zunächst die Filme und Dokus vorstellen, die mich besonders beeindruckt haben (nicht in der Reihenfolge des Ansehens)

Êrase una vez en Venezuela
Es war einmal in Venezuela


Bei einem flüchtigen Blick auf das Foto könnte man meinen, es ginge um einen Kanal in Venedig. Bis das Auge sich scharf stellt (der Verstand hat längst schon gesagt, kann ja nicht sein) und man statt nobler Palazzi einfache Hütten auf Stelzen im Hintergrund erkennt.
Wir sind am Maracaibo-See in Venezuela und erleben den Untergang des Fischerdorfes Congo Mirador.
Es ist sehr traurig anzusehen, wie das Dorf immer mehr verschwindet, trotz aller Anstrengungen und Bitten, da die Regierung jede Hilfe unterlässt.
Andererseits war ich fasziniert davon, wie die Bewohner nicht nur mit, sondern auch im Wasser leben, so als wären sie halb Mensch, halb Amphibie.

Im Anschluß an diese Doku war der Drehbuchautor Sepp R. Brudermann anwesend und erzählte höchst interessant über deren Entstehung und beantwortete Fragen aus dem Publikum.

Magali


Magali erfährt vom Tod ihrer Mutter und kehrt widerwillig in ihr Heimatdorf zurück. Sie hatte dort nicht nur ihren 10-jährigen Sohn bei der Mutter zurückgelassen, sondern sich auch von allen Traditionen der indigenen Dorfgemeinschaft gelöst. Als aber ein Puma das Dorf bedroht, ist sie bereit, gemeinsam mit ihrem Sohn das Raubtier mittels eines uralten Rituals zu besänftigen.
Am Anfang des Films sehen wir, dass die Behausung der Mutter eine einfache Hütte aus Stein ist und als Magali daheim ankommt und zur Hütte hinaufsteigt, entfährt mir ein "Ach, du Schreck", denn um die Hütte herum ist nichts als Steine, Steine, Steine, und hie und da ein niedriges, zerzaustes Gestrüpp !
Es ist sehr mutig von Regisseur Juan Pablo Di Bitonto eine Frau wie Magali als Protagonistin zu wählen, denn Magali ist eiskalt. Das erfahren wir Zuschauer gleich zu Beginn, als sie ihren Hund, ohne mit der Wimper zu zucken, an einem Laternenpfahl anbindet (meinen spontanen Kommentar dazu verschweige ich lieber), ehe sie in das Taxi steigt. Nach und nach verstehen wir aber, dass es Magali nur gelang, alles hinter sich zu lassen, indem sie einen Ring von ebenfalls Steinen um ihr Herz legte.
Gleichzeitig lässt der Film Fragen offen: Ist Magali quasi als Sühne Krankenschwester geworden ? Wer ist der Vater ihres Sohnes ? Wird sie an ihren Arbeitsplatz zurückkehren oder bleibt sie ? Was geschieht mit ihrem Sohn ? Wie war das Verhältnis zu ihrer Mutter ? Und letztendlich, wieso ist sie überhaupt weggegangen ?

El último traje
Das letzte Geschenk

Da der Film auch nach dem Festival im regulären Programm des Das Kino gezeigt wird, darf ich nicht zu viel verraten, vor allem nicht das Ende. Aber vorweg: Unbedingt anschauen ! Es ist ein wunderbarer, anrührender Film und man sollte Taschentücher dabei haben.

Die Angehörigen des 88-jährigen Abraham haben beschlossen, ihn ins Altenheim zu verfrachten. Sie haben sein Haus verkauft und sein Hab und Gut ist zur Besichtigung (wer bekommt was ?) aus den Schränken geräumt. Aber Abraham steigt kurzerhand in ein Flugzeug   denn er will seinen Jugendfreund in Polen besuchen, der ihm einst das Leben rettete. Auf seinem Weg dahin begegnet er vielen Menschen und erfährt immer wieder Hilfe, bis er in Warschau ankommt...
Abraham ist nicht etwa ein liebenswerter Opa, er ist starrsinnig und nachtragend - und trotzdem hoffen wir Zuschauer sehr, dass er seinen alten Freund wiedersieht !!!! ?????

Familia de medianoche
Midnight Family


Unvorstellbar, dass es in Mexico City mit seinen über 10 Millionen Einwohnern vom staatlichen Gesundheitssystem her nur rund 45 Rettungsautos gibt (auf der Stelle ist man dankbar für unser Gesundheitssystem). Vorstellbar ist hingegen, dass es selbsternannte Rettungssanitäter gibt, die Nacht für Nacht unterwegs sind, immer auf der Jagd nach Unfällen und vor allem, als Erste dort zu sein.
In dieser Doku des Regisseurs Luke Lorentzen fahren wir als Zuschauer mit bei den Einsätzen. Und wenn die Kamera im Rettungswagen installiert ist, bekommen wir Herzrasen bei den halsbrecherischen Fahrten zum Einsatzort.
Es ist nun nicht so, dass die Verunglückten Pech haben, bei Fernando Ochoa zu landen, sein Rettungswagen ist mit allem Nötigsten zur ersten Hilfe ausgestattet und sie werden danach in eine Klinik gefahren. Wenn Ochoa Glück hat, kann er sie in eine bestimmte Klinik bringen, denn nur von der erhält er Geld. Die Verletzten selbst können oft genug nichts bezahlen.
Trotz aller Widrigkeiten haben sich Fernando Ochoa und sein ältester Sohn (der jüngste ist noch Kind) Empathie für die Verunglückten bewahrt. Oft warten sie im Krankenhaus, bis sie erfahren, ob der Verletzte überleben wird - obwohl es dafür kein Geld gibt. Einmal sitzt eine junge Frau, die von ihrem Freund brutal geschlagen wurde, im Rettungswagen, sie zittert am ganzen Körper und bittet um eine Umarmung, damit sie sich wieder fangen kann - und die bekommt sie. Ein anderes Mal geht es um das Leben eines Babys und während Fernando Ochoa darum kämpft, ruft er immer wieder beschwörend "Baby, Baby" - und das Baby überlebt.
Ich bewundere Fernando Ochoa und seine Familie, statt Zynismus Menschlichkeit. Wenn es auch illegal ist, so würde ich sagen, wie gut, dass es Fernando Ochoa und seine Söhne gibt !

Sin señas particulares
Was geschah mit Bus 670 ?


Der deutsche Titel ist irreführend, es geht nicht um Aufklärung, was mit Bus 670 geschah, sondern um die Suche einer Mutter nach ihrem verschollenen Sohn. Jesùs war mit einem Freund zur Grenze losgezogen, um in die USA zu gehen. Als die Leiche des Freundes gefunden wird, Jesùs aber verschwunden bleibt, macht sich seine Mutter Magdalena auf den Weg, ihn zu finden. Sie ist der festen Überzeugung, dass er noch lebt. Es ist eine lange, gefahrvolle Suche und unterwegs schließt sich ihr der junge, illegale Migrant Miguel an, der aus den USA ausgewiesen wurde und nun seinerseits seine Mutter sucht.
Magdalena findet schließlich ihren Sohn - und muss feststellen, dass er, da er in die Hände von Banditen gefallen ist, zum Mörder wurde und, da er ihnen nicht entkommen kann, weiter morden wird. Sie hat ihren Sohn verloren, obwohl er noch lebt, und Miguel, den sie mit nach Hause genommen hätte, wird erschossen. So bleibt sie alleine zurück.
Nach dem Film sagte ich, leicht schockiert, zu meinem Sohn : "Puh, ist der Film heftig !"
Heftig zum einen: die allgegenwärtige Menschenverachtung gegenüber den Migranten an der Grenze zu den USA, und als eine furiose Szene fast zum Ende des Films (ein riesiges Feuer füllt die Leinwand, mittendrin eine schwarze Gestalt, der ein Teufelsschwanz und Hörner wachen) uns begreifen lässt, dass auch hier in Mexiko das Böse ist, Banditen, die töten, einfach aus der Lust heraus zum Töten; und zum anderen: das traurigen Ende, die Mutter, die so viele Strapazen auf sich genommen hat, bleibt alleine und ohne jede Hoffnung, zurück.

A vida invisivel
Die Sehnsucht der Schwestern Gusmão


Wir sind in Rio de Janeiro der 50iger Jahre und lernen die beiden Schwestern Euridice und Guida kennen. Sie sind schöne Frauen und hängen sehr aneinander, obwohl sie unterschiedlicher nicht sein könnten.
Guida ist voller Lebenslust und brennt mit einem griechischen Seemann durch. Euridice dagegen ist zurückhaltend. Sie spielt gerne Klavier und träumt davon, in Wien Musik zu studieren.
Aber das Schicksal in Gestalt ihres Vaters meint es anders: Als Guida hochschwanger und von ihrem Seemann verlassen, heimkehrt, wird sie vom Vater verstoßen. Guida darf natürlich nicht nach Wien, sondern wird stattdessen brave Ehefrau und Mutter. Der Film ergeht sich in sinnlichen und opulenten Bildern und wir begleiten von Anfang bis Ende voller Spannung und Anteilnahme die parallelen,  jedoch so verschiedenen Lebenswege der Schwestern.

Grundlage für den Film ist der Roman "Die vielen Talente der Schwestern Gusmão" von Martha Batalha. Natürlich habe ich mir das Buch gekauft und auch bereits gelesen - musste aber feststellen. dass der Film nur peripher mit der Handlung des Buches übereinstimmt: Trotzdem, der Film ist wundervoll und das Buch absolut lesenswert ! 

Los Lobos
Die Wölfe

Um es gleich zu sagen: Das ist mein Lieblingsfilm ♥

Lucia ist alleinerziehende Mutter ihrer kleinen Söhne Max und Leo. Sie wandert mit ihnen in die USA aus für ein besseres Leben. Den Kindern hat sie erzählt, sie würden einen Ausflug nach Disneyland machen. Statt dessen landen sie in einer überteuerten, schäbigen Einzimmerwohnung. Lucia findet Arbeit, muss aber die Kinder tagsüber alleine in der Wohnung lassen. Um es ihnen leichter zu machen, spricht sie ihnen 7 Regeln auf eine Kassette, und eine Regel davon lautet, niemals und wirklich niemals die Wohnung während ihrer Abwesenheit zu verlassen. - was natürlich eines Tages geschieht...

Die Geschichte wird aus der Sicht der Kinder erzählt und damit ist man gleich bei ihnen, staunt, wie sie mit phantasievollen Spielen das Eingesperrtsein Tag für Tag meistern, hat gleichzeitig Mitleid mit ihnen und als sie dann doch unerlaubterweise nach draußen gehen, fiebert man, dass ihnen ja nichts passiert (die beiden Brüder Maximiliono und Leonardo Nájar Márquez spielen ihre Rollen einfach großartig und ich bewundere sie restlos dafür !)
Aber auch Lucia verdient unseren vollen Respekt: Sie muss sogar zwei Jobs annehmen, um finanziell über die Runden zu kommen, und trotzdem kümmert sie sich, wenn sie müde nach Hause kommt, liebevoll um ihre Söhne. Und wir sind sehr froh, dass ihrer aller Leben zum Schluß leichter wird.

In Los Lobos erzählt uns Filmemacher Samuel Kishi seine eigenen Kindheitserinnerungen. Ich habe gleich nachgeschaut, ob es eine Autobiographie gibt. Bislang nicht, aber vielleicht wird Kishi sie eines Tages schreiben....

Criminales como nosotros
Glorreiche Verlierer


Die Dorfgemeinschaft eines kleinen Nestes gründet eine Genossenschaft, um die alte Getreidemühle wieder in Schwung zu bringen. Das Geld dafür vertrauen sie einem Banker an, der sie aber betrügt. Das wollen sie jedoch nicht hinnehmen und sie fassen einen Plan, mittels eines Banküberfalls sich ihr Geld zurückzuholen.

Dieser Film ist unterhaltsam, temporeich, man staunt über die Ideenvielfalt, muss vor allem oft herzhaft lachen. Und das - ehrlich gesagt - tat richtig gut ! 

Aus drei Filmen möchte ich noch bestimmte Szenen erwähnen: La Mami: La Mami arbeitet in einer Damentoilette, faltet tagsein, tagaus Toilettenpapier und kümmert sich gleichzeitig um "ihre Mädels", die in der Bar gegen Bezahlung mit Männern tanzen und trinken. Beim Anschauen der Doku braucht man ein bißchen Geduld, denn es geht um den immer wiederkehrenden Alltag von La Mami. Aber als gezeigt wird, wie La Mami betet, bin ich ganz berührt, denn sie betet nicht um Wohlstand und dass Gott sie von dieser Arbeit erlösen möchte, sondern darum, dass sie noch lange diese Arbeit machen kann und sie bittet um Schutz für die Frauen.

In Rojo finde ich die Szene sehr makaber, in der ein von Rechtsanwalt Mora schwer verletzter Unbekannter auf der Rückbank seines Autos liegt und röchelt und röchelt, während Mora seelenruhig fährt und dabei nach einem Platz Ausschau hält, wo er ihn ungesehen abladen kann.

Canción sin nombre (Lied ohne Namen): Die junge Georgina ist schwanger und geht in ihrer Not in eine kostenlose Geburtsklinik. Aber nach der Geburt ist ihr Baby verschwunden und sie wird nach Hause geschickt. Auf der Suche nach ihrem Baby kehrt sie wieder zur Geburtsklinik zurück. Aber dort ist niemand mehr und das Eingangstor ist verschlossen. Voller Verzweiflung hämmert sie immer und immer wieder an die schwere Tür und ruft und ruft, dass man ihr öffnet. Aber vergeblich. Das geht sehr ans Herz und ich möchte Georgina in die Arme nehmen und versuchen, sie zu trösten.

Zum Schluß bedanke ich mich ganz herzlich , dass Das Kino dieses Filmerlebnis möglich gemacht hat !

Übrigens: Vom 10. - 12. Mai stehen die Afrika Filmtage im Das Kino ins Haus 😃

* Alle Fotos dem Booklet entnommen
* Zu den Filmen gibt es auf Youtube Trailer. Manche Filme kann man auch kaufen