Dienstag, 14. Juni 2016

Ich gebe gerne zu ....


...dass ich als wunderbare Interimlektüre gelegentlich Jugendbücher lese.
Neulich fiel mir auf einem Flohmarkt "Trotzkopfs Brautzeit" in die Hände und ich erinnerte mich daran, dass ich noch "Heidi" von Johanna Spyri und "Der Trotzkopf" von Emmy von Rhoden besitze, die ich als Kind ! geschenkt bekam. Gerade hatte ich die Steve-Jobs-Biografie von Walter Isaacson beendet und das erschien mir ein guter Zeitpunkt, um nach all den Jahren "Der Trotzkopf" zu lesen.

Der Trotzkopf heißt Ilse, ist 15 Jahre alt und wächst auf einem Gut in Pommern auf. Ihre Mutter ist gestorben und so wird sie von ihrem Vater maßlos verwöhnt. Ihre Manieren, Kleidung und Bildung (durch Privatlehrer) lassen, sehr zum Missfallen ihrer Stiefmutter, sehr zu wünschen übrig. Schließlich kommt Ilse in ein Mädchenpensionat, um all das zu lernen, woran es ihr mangelt. Nach einem Jahr kehrt Ilse geläutert nach Hause zurück. Auf der Heimreise verliebt sie sich in einen jungen Mann, der, wie sich herausstellt, ihren Eltern wohlbekannt und gelitten ist. Damit sind die Weichen gestellt für das damalige Lebensziel für und von Mädchen: Verlobung und - nach einer angemessenen Frist - Heirat.

In diesem Zusammenhang fiel mir mein Poesiealbum ein (kennt überhaupt noch jemand das klassische Poesiealbum mit dem Vers auf der rechten Seite und einem Glanzbild auf der linken?), das ich ebenfalls 1955 geschenkt bekam. Hier eine kleine Auswahl, wie ich zu sein hatte:

"Blüh wie das Veilchen im Moose,
still, sittsam, bescheiden und rein,
und nicht wie die stolze Rose,
die immer bewundert will sein. "

"Willst du glücklich sein auf Erden
trage bei zu andrer Glück,
denn die Freude, die wir geben
kehrt ins eigne Herz zurück "

"Es ist ein tiefer Segen,
der aus den Worten spricht:
Erfülle allerwegen
getreulich deine Pflicht"

"Edel sei der Mensch
hilfreich und gut"

"Der Rose süßer Duft genügt,
man braucht sie nicht zu brechen
und wer sich mit dem Duft begnügt,
den wird der Dorn nicht stechen"

1955 war ich zehn Jahre alt und mir war natürlich nicht klar, dass ich ein Zeitdokument in Händen hielt: Eltern wünschten ihre Töchter gut verheiratet und auch die Töchter träumten von einem Ehemann, dem sie eine gute Ehefrau, Hausfrau und Mutter seiner Kinder sein würden. Sie lernten ohne zu murren nicht nur gutes Benehmen und sich angemessen zu kleiden, sondern auch kochen, nähen und stricken. Des weiteren war eine gewisse Allgemeinbildung von nöten, die aber von Bescheidenheit überdeckt bleiben musste. Für Mussestunden war sticken und malen akzeptabel, sowie Klavier spielen, um Gäste zu unterhalten. Der Ehemann war selbstverständlich das Familienoberhaupt und seine Frau hatte, in übertragenem Sinn, drei Schritte hinter ihm zu stehen.

Interessant ist, dass es "Der Trotzkopf" (erschien 1883!) und die Folgebände (geschrieben von Else Wildhagen, der Tochter von Emmy von Rhoden) heute noch in zig Neuauflagen zu kaufen gibt. Da sich die Zeiten für Frauen glücklicherweise geändert haben, bin ich sicher, die jungen Leserinnen ziehen ein ganz anderes Fazit aus den Büchern.